ARCH+ 195 ISTANBUL WIRD GRÜN
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Editorial:
Die grünen Seiten Istanbuls Istanbul
Manifacturacilar Carsisi - IMC Apartkondu
– oder warum ich Howard Roark hasse und den Müteahhit
liebe Neue
Landschaften
Ökologie als Planungsgestus SUPERPOOL Extra: Die
Stadt der Akteure DIE GRÜNEN SEITEN
ISTANBULS Die Türkei war schon immer ein
besonderer Bezugspunkt für deutsche Architekten. So hat Bruno Taut
immer wieder die Bedeutung des Orients für die Erneuerung der
Moderne beschworen, die in seinen Augen einem trockenen Rationalismus
verfallen war. Dieser ideelle Bezugspunkt wurde während der Zeit
des Nationalsozialismus zu einem konkreten Fluchtpunkt für eine
ganze Generation von Architekten, Stadtplanern, Künstlern und
Wissenschaftlern, die vom NS-Regime verfolgt wurden und in Istanbul und
Ankara Schutz und Arbeit fanden: Architekten wie Bruno Taut, Margarete
Schütte-Lihotzky oder Paul Bonatz, um nur einige zu nennen. Sie
haben bei der Modernisierung des Landes mitgewirkt, die
Staatsgründer Kemal Atatürk der Türkei nach 1923
verordnet hatte. Vor allem halfen diese
„Universitätsemigranten“ mit bei der Umsetzung der
Bildungsreform von 1933, die ein wichtiger Baustein der
Modernisierungspolitik Atatürks war. Das Ergebnis dieser
verordneten Modernisierung wirkt bis heute nach und bestimmt ein
labiles Verhältnis zwischen Tradition und Moderne,
nationalistischem Säkularismus und religiösem Konservatismus,
latentem Autoritarismus und Demokratie. Aber auch die Sonderrolle der
Türkei im islamischen Kontext ist diesem Ausgangspunkt zu
verdanken: Der islamische Fundamentalismus konnte hier nie wirklich
Fuß fassen. Interessanterweise werden gerade die politischen
Defizite der Vergangenheit, zu denen eine vom Militär gelenkte
Demokratie und ein tief sitzender Nationalismus gehören,
gegenwärtig von einer islamisch-konservativen Bewegung vorsichtig
behoben. Das Faszinierende an dieser Entwicklung ist, dass diese
Reformen weniger aus ideologischen als vielmehr aus
pragmatisch-merkantilen Erwägungen heraus erfolgen. Sei es die
moderate Stärkung der Bürgerrechte im Rahmen der
europäischen Annäherung, sei es die vorsichtige Anerkennung
der kurdischen Minderheit oder die gerade begonnene
Aussöhnungspolitik gegenüber Armenien, das alles geschieht
vornehmlich mit dem Ziel, den politischen und ökonomischen
Handlungsspielraum der Türkei als strategische Mittelmacht an der
Grenze zwischen Europa und den Krisenherden des Nahen Ostens zu
vergrößern. Grün – die Farbe des
Islam Es ist also nicht übertrieben, von einer
Zeitenwende zu sprechen, trotz aller noch bestehenden eklatanten
Defizite bei den Freiheitsrechten, wie der Fortschrittsbericht der
EU-Kommission zum Beitrittsprozess der Türkei soeben wieder
gezeigt hat. Die Partei, die die skizzierten Entwicklungen vorantreibt,
ist die islamisch-konservative AKP des Ministerpräsidenten Tayyip
Erdogan. Deren Parteistrategen wollen sie als konservative Partei
etablieren, die für ein „calvinistisches“
Verständnis des Islams steht: fromm, stockkonservativ – und
zugleich fleißig und geschäftstüchtig. […]
Diese „stille islamische Reformation“ (ESI) geht mit
politischen und sozio-ökonomischen Reformen einher, deren
Tragweite weit über die Sphäre der Politik hinausreicht. In
Bezug auf die Stadtentwicklungspolitik beschworen die AKP und deren
Vorgängerparteien ursprünglich das Ideal der
„muslimischen Stadt“. Wie diese aussehen sollte, beschreibt
der Soziologe Cihan Tugal in seinem Beitrag „Istanbul wird
grün“, dessen Titel wir für diese Ausgabe
übernommen haben: Hauptmerkmale sollten architektonische
Bescheidenheit und Einklang mit der Natur sein; Planung und Entwicklung
sollten die historische Textur der Stadt
berücksichtigen.“ Grün – die Farbe
des Geldes Statt für Bescheidenheit und
Berücksichtigung der historischen Textur der Stadt steht die
regierende AKP jedoch seit geraumer Zeit für eine radikale
Stadtentwicklungspolitik, deren Ziel es ist, Istanbul stärker
für das globale Kapital zu öffnen. Das Kapital, mit dessen
Hilfe Istanbul zu einem geostrategisch wichtigen Wirtschaftsstandort
ausgebaut werden soll, hat nicht nur die grüne Farbe des
„Greenback“, wie die Leitwährung US-Dollar
umgangssprachlich genannt wird. Grün ist das Kapital auch durch so
genanntes „Green Money“, das nach dem 11. September 2001
verstärkt nach Istanbul strömte, weil die Golfstaaten des
Nahen Ostens teilweise ihre Anlagen aus Amerika abzogen und Istanbul
ein lukratives Geschäft verspricht. Diese Entwicklung
wirkt sich unmittelbar in der Stadtentwicklungspolitik aus und wird
durch die Tatsache verstärkt, dass in der Regierungszeit der AKP
die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKI zu einer alles
umschlingenden Immobilienkrake umgebaut wurde, die massiv in den
Bodenmarkt eingreift und verantwortlich ist für eine Unzahl von
spekulativen Stadterneuerungsprojekten, die ganze Stadtviertel
ausradieren. Diesen Schwenk hin zu einer profitorientierten
Stadtpolitik hat Erdogan bereits in seiner Zeit als Bürgermeister
von Istanbul Ende der 1990er Jahre vollzogen, als er „das
islamische Erbe der Stadt eher dazu [nutzte], weltweites Kapital und
Tourismus anzulocken als eine islamische Republik darauf zu
gründen. Dieser Prozess verstärkte sich 2002 noch, als die
ehemaligen Islamisten den Bau von Wolkenkratzern im neuen Finanzzentrum
der Stadt vorantrieben. […] Mit diesem neuen Ansatz starben der
Gleichheitsgedanke und die populistische Unterstützung der
Landbesetzer durch die frühen islamistischen Vordenker.“
(Tugal) Grün – die Farbe der
Zugänglichkeit Diese Entwicklung verweist auf den
dritten Aspekt, den wir mit dem vieldeutigen Titel „Istanbul wird
grün“ verdeutlichen wollen. Die Integration der
oppositionellen islamisch/islamistischen Bewegung in die säkulare,
marktwirtschaftlich orientierte Politik der Türkei hat
nämlich auch deren Charakter stark verändert. War ihr
Aufstieg mit dem populistischen Eintreten für die Armen und
Marginalisierten der Gesellschaft verbunden, so hat sie sich in
Anpassung an die Machtstrukturen immer stärker den wirtschaftlich
aufstrebenden Schichten zugewendet und in letzter Konsequenz eine Art
„Islam mit neoliberalem Antlitz“ (Tugal) geschaffen.
Dies wird besonders in der Stadterneuerungspolitik der AKP deutlich,
die zunehmend zu Gunsten der kapitalstarken neuen Mittelschichten
ausgerichtet ist, während Benachteiligte und Gecekondu-Bewohner
die Lasten dieses Stadtumbaus zu tragen haben. Für Tugal sind dies
stadträumliche Auswirkungen dessen, was er „die passive
Revolution der Türkei“ genannt hat: „die
Herausforderungen des Islam mit den Energien der atlantischen
Marktwirtschaft zu binden.“ Aber damit ist zugleich eine negative
Entwicklung verbunden, die die Solidarität mit Benachteiligten der
Gesellschaft untergräbt. Denn das „Recht auf die
Stadt“ hängt verstärkt von den eigenen Geldmitteln ab,
was sich im Boom von Gated Communities, Luxussanierungen ganzer Viertel
oder in einem touristisch gefärbten Geschichtsbild
niederschlägt. Grün – die Farbe der
Natur Ein anderes Zeichen für die zunehmende globale
Ausrichtung der Stadtökonomie Istanbuls, deren Erfolg mehr denn je
von der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ abhängig
ist, ist der Bedeutungszuwachs von ikonischer Architektur und
bildhafter Stadtplanung. Nicht zuletzt durch den UIA Kongress in
Istanbul im Jahre 2005 hat die Stadt die Werbewirksamkeit der
internationalen Stars der Architekturszene für sich entdeckt.
Seitdem findet kaum einer der seltenen Wettbewerbe ohne Beteiligung von
Stararchitekten statt. Dass Architektur als Marketingtool eingesetzt
werden kann, hat spätestens seit Frank Gehrys Guggenheim Museum in
Bilbao wohl jeder Bürgermeister verstanden. Neu ist allerdings,
dass „Ökologie als Planungsgestus“, wie Sevin Yildiz
in ihrem Beitrag beschreibt, als Marketinginstrument und
Argumentationshilfe der spekulativen Stadterneuerungspolitik zum
Einsatz kommt. Die Ökologie gerät hier in Gefahr, zur
Bemäntelung einer Gentrifizierungspolitik benutzt zu werden, die
in letzter Konsequenz den benachteiligten Bewohnern das Recht auf Stadt
entzieht. Zugang zu den Segnungen der Verbesserungen haben dann nur
noch diejenigen, die es sich leisten können. Daher sollten
„Naturschutzanliegen nicht der Grund sein, Diskussionen
verstummen zu lassen und keine weiteren Fragen zum Charakter der
Umgestaltung mehr zu erlauben – etwa nach den Nutznießern
der wiedergewonnenen Ökologie“ (Yildiz). Besonders
hier zeigt sich, dass die unterschiedlichen Aspekte, die wir in diesem
Heft ansprechen, miteinander verwoben sind und nicht getrennt
voneinander betrachtet werden können, oder um beim Bild
„Istanbul wird grün“ zu bleiben: es sind lediglich
unterschiedliche Schattierungen von Grün.
Grün – die Farbe der Hoffnung Bei
aller berechtigten Kritik gibt es natürlich auch viele
hoffnungsvolle Entwicklungen. Es scheint, als ob die „passive
Revolution der Türkei“ am Ende eine Gesellschaft
hervorbringen wird, die ihre islamische Tradition mit den
rechtstaatlichen und demokratischen Prinzipien der Moderne in
Übereinstimmung bringt und als Rollenmodell für den gesamten
Nahen Osten fungieren kann. Auch wenn es noch ein langer Weg ist, so
ruhen die Hoffnungen der EU darauf, die Türkei über den
Prozess der europäischen Annäherung und Integration auf Dauer
auf diesem Weg begleiten zu können. […] Die Hoffnung
in die Zukunft ist aber auch verbunden mit einer jungen Generation, die
weltoffen und hellwach ist und in ihrem Streben kaum zu unterscheiden
ist von der jungen Generation anderer Länder. So endet das Heft
denn auch mit den Hoffnungsträgern der Architekturszene in
Istanbul. In kurzen Gesprächen haben Pelin Tan und Sevin Yildiz,
die mit uns als Gastredakteurinnen das Heft konzipiert haben,
Porträts exemplarischer Büros erstellt und deren
Arbeitsweisen dokumentiert. […] Nicht zufällig
schließt die Porträtreihe mit dem Studio Superpool, das
Selva Gürdo?an und Gregers Tang Thomsen 2006 in Istanbul
gegründet haben, nachdem sie sich bei OMA (Rem Koolhaas) in
Rotterdam und New York kennengelernt haben. So steht Superpool als
eines der interessantesten Teams nicht nur für eine neue
konzeptuelle Tendenz in der türkischen Architektur. Mit dem Team
ist vielmehr auch die Hoffnung verknüpft, dass Tradition und
Moderne in Zukunft keine antagonistischen Kategorien mehr darstellen,
sondern lediglich die beiden Pole einer pluralistischen
Gesellschaft. Nuray Karakurt, Nikolaus Kuhnert, Anh-Linh
Ngo (gekürzte Fassung des Editorials) Das Heft ist ab
7.11.09 im Buchhandel erhältlich. Mehr zum
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